D.Bulinsky: Nahbeziehungen eines europäischen Gelehrten

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Titel
Nahbeziehungen eines europäischen Gelehrten. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und sein soziales Umfeld


Autor(en)
Bulinsky, Dunja
Erschienen
Zürich 2020: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
€ 48,00; CHF 48.00
von
Sarah Baumgartner

Die neuere Wissenschaftsgeschichte nähert sich ihrem Gegenstand nicht mehr im Sinne eines linearen Fortschrittnarrativs und als Abfolge von Geistesblitzen grosser Forscher. Vielmehr hat sie ihren Blickwinkel erweitert und erfasst den historischen Wandel über die konkreten Forschungspraktiken. Auf diese Weise werden die vielfältigen Kontexte sichtbar, in die die gelehrte Wissensgenerierung und ihre Akteure eingebunden waren, und eine beachtliche Vielfalt an Personenkreisen und Orten der Wissensproduktion tritt ans Licht. Auch Dunja Bulinsky hat sich in ihrer 2018 an der Universität Luzern verteidigten Dissertation über die «Nahbeziehungen» des Zürcher Naturforschers Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) dieser Herangehensweise verpflichtet.

Dem ungemein produktiven Scheuchzer, bekannt als Pionier der Erforschung des Alpenraums, Herausgeber der prächtig illustrierten «Kupferbibel» und Schöpfer einer detailreichen Karte der Eidgenossenschaft, leisteten zahlreiche Personen vielfältige Dienste, ohne die seine Forschungsarbeit nicht denkbar gewesen wäre. Viele von ihnen traten nie selbst als Autoren in Erscheinung und blieben so in der bisherigen Forschung, die primär auf der Untersuchung gelehrter Schriften basierte, weitgehend «unsichtbar».

Über das Mitwirken ebendieser Menschen am Werk des berühmten Scheuchzer möchte die vorliegende Untersuchung mehr herausfinden. Das zentrale Forschungsinteresse gilt der Frage, «welche Rolle die Helfer aus seinem [Scheuchzers, S.B.] Umfeld für seine Forschungen spielten und wieweit ihre Informationen in seine Publikationen einflossen» (S. 16). Die Darstellung beginnt mit der unmittelbaren häuslichen Umgebung des Zürcher Naturforschers, seinem Haus «zur Lerche» mit seinen Söhnen und der Ehefrau Susanne Vogel. Anschliessend nimmt sie die Zusammenarbeit mit seinem jüngeren Bruder Johannes und ehemaligen Schülern in den Blick, um dann die Rolle der gelehrten Institutionen in Zürich zu beleuchten. Schliesslich geht sie auf die zahlreichen «ungelehrten» Alpenbewohner ein, auf die Scheuchzer als Lieferanten von Wissen über die Bergwelt zurückgriff.

Eine der Herausforderungen von Studien, die das alltägliche Handeln historischer Akteure rekonstruieren möchten, liegt oft in der Verfügbarkeit von Quellen. Die vorliegende Arbeit stützt sich in dieser Hinsicht insbesondere auf die bislang nur partiell ausgewertete Korrespondenz Scheuchzers. Der Wert dieser Quellengattung für die Rekonstruktion der Arbeitsweise von Forschern ist bekannt, auch wenn sie naturgemäss erst entstand, wenn eine zu überwindende räumliche Distanz zwischen die Beteiligten trat.

So gestaltet sich der Versuch, Einblick in die familiäre Sphäre des Zürcher Naturforschers zu gewinnen, als schwierig. In der schriftlichen Überlieferung sind die Hinweise auf den Alltag im Scheuchzer’schen Haushalt und damit auch das Wirken der Ehefrau äusserst spärlich. Immerhin konnte die Autorin aus Reiseberichten von Scheuchzers zahlreichen Besuchern entnehmen, dass seine Gattin nicht nur im Rahmen ihrer häuslichen Pflichten als Gastgeberin für das leibliche Wohl der Besucher zuständig war, sondern ihrem Mann auch bei der Wissensvermittlung zur Hand ging, indem sie seinen Gästen etwa die Naturaliensammlung präsentierte. Zudem muss ein Hausgenosse – die Autorin vermutet, dass es sich um die Ehefrau handelte – während den Abwesenheiten des Hausvaters die meteorologischen Instrumente abgelesen haben. Insgesamt lege die Überlieferung somit nahe, dass Scheuchzers Arbeitsräume, also die Sammlung und sein Studierzimmer, offenbar keine von der Familie separierten Rückzugsorte waren, sondern in grösserem Masse in den häuslichen Alltag integriert waren, als dies die bisherige Forschung zu Gelehrtenhaushalten vertritt.

Ergiebiger sind die Quellen zum – allerdings früh verstorbenen – jüngsten Sohn, der von seinem Vater zur Ausbildung nach England geschickt worden war, und vor allem zu Johannes, dem um zwölf Jahre jüngeren Bruder Scheuchzers, der später ebenfalls als Naturforscher tätig wurde. Johann Jakob hatte ihn in naturkundlichen Themen unterrichtet, und als er sich später auf Reisen begab, unterhielten die beiden einen regen Briefwechsel.

Schüler als Tischgänger aufzunehmen, war in frühneuzeitlichen Gelehrtenhaushalten gängige Praxis, so auch bei Scheuchzer. Diese jungen Männer waren, gerade für den Zürcher, der quasi zeitlebens auf eine besoldete akademische Stelle wartete, eine wichtige Einnahmequelle, und galten auch als zukünftige Mitarbeiter. 99 Schüler hatte Scheuchzer im Laufe von mehreren Jahrzehnten nachweislich bei sich zuhause unterrichtet. Am Beispiel von dreien von ihnen zeichnet die Autorin nach, wie die Grundlage einer lebenslangen Bekanntschaft geschaffen wurde, in deren Verlauf die Schüler als Zuträger von Informationen, Vermittler von Kontakten und Naturalien die Arbeit ihres einstigen Lehrers unterstützten, sich aber auch zunehmend emanzipierten und eigene Interessen zu verfolgen begannen.

Die Zürcher gelehrten Institutionen, also die «Carolinum» genannte Hohe Schule, die Bürgerbibliothek und die frühaufklärerischen Diskussionszirkel der «Collegia» waren für Scheuchzer Foren, wo er mit seinen Arbeiten vor die lokale Öffentlichkeit treten konnte. Gleichzeitig zeigten sich hier auch die Schwierigkeiten, denen er sich als Vertreter der Kopernikanischen Kosmologie – die in Zürich bis kurz vor seinem Tod nicht öffentlich gelehrt werden durfte – ausgesetzt sah.

Das letzte Kapitel ist schliesslich Scheuchzers Austausch mit jenen «ungelehrten» Bergleuten, Jägern und Hirten gewidmet, die ihm den alpinen Raum erst erschlossen. Die räumliche wie soziale Distanz zwischen ihnen und dem städtischen Gelehrten war gross, aber Scheuchzer betrachtete das Wissen jener Leute für seine Forschung als unverzichtbar und mass den Informationen, die sie ihm vermittelten, eine hohe Glaubwürdigkeit zu.

Alles in allem liegt hier eine kompakte, leicht lesbare Studie vor, die am Beispiel des Johann Jakob Scheuchzer einige Aspekte der kollaborativen Praxis in der frühneuzeitlichen Naturforschung exemplarisch aufzeigt.

Zitierweise:
Baumgartner, Sarah: Rezension zu: Bulinsky, Dunja: Nahbeziehungen eines europäischen Gelehrten. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und sein soziales Umfeld, Zürich 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (3), 2021, S. 515-516. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00093>.

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